Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.2021

Wildgänsen auf der Spur

Sehnsucht nach der Ferne, Sehnsucht nach Rückkehr, Fähigkeit zur Monogamie: Wildgänse zählen zu den klügsten Vögeln und haben erstaunlich viele menschliche Eigenschaften.

Millionen Hausgänse werden jeden Herbst und Winter gegessen. Doch dass die aufwendige Jagd auf Wildgänse betrieben wird, hat auch seinen Grund. Nicht nur sind die Bauern und auch die städtischen Grünämter dankbar, wenn die stattlichen Populationen, einschließlich der eingewanderten Nil- oder Kanadagänse, nicht noch mehr anwachsen. Die weniger fetten und aromatischeren Wildgänse geben zu Sankt Martin und zu Weihnachten auch den besseren Braten. Obwohl es eigentlich nicht richtig wäre, zu Sankt Martin Wildgänse zu essen, waren es doch Hausgänse, die der Legende nach Martin durch ihr Geschnatter verrieten, als er sich im Stall bei ihnen verbarg, weil er sich der Bischofswürde nicht gewachsen fühlte. Mehr Wildgänse und weniger Hausgänse zu essen, ist trotzdem richtig, vor allem ökologisch. Genauso wie man darauf achten sollte, nur solche mit Daunen gefüllten Produkte zu kaufen, die von nach dem Tod gerupften Gänsen aus tiergerechter Haltung stammen. Rupfen ist wie Stopfen Tierquälerei.

Der August ist Jagdmonat auf die Graugans, die größte europäische Wildgans. Aus ihr ging die weiße Hausgans hervor. Hauptjagdzeit ist von November bis Januar. Wildgänse sind legendär schwer und nur mit großem Aufwand zu jagen. Der beste Gänsejagdtag ist ein windiger, nebliger, wolkenverhangener und regnerischer Tag. Es heißt, Wildgänse hätten auf jeder Feder zwei Augen. Man muss also Tarnkleidung und Tarnnetze einsetzen und dicht am Boden liegend möglichst unsichtbar im Acker darauf warten, dass eine Schar in Schussnähe über die Jäger in ihren „Gänseliegen“ hinwegfliegt. Am besten stellt man noch Gänseattrappen auf, die suggerieren, hier sei eine Landung gefahrlos und sicher. Anders als Enten, die tagsüber auf dem Wasser schwimmen und nachts zu den Äsungsplätzen „streichen“, wie die Jäger sagen, suchen die Gänse tagsüber ihre pflanzliche Nahrung – Getreide, Gräser, Kräuter – auf dem Land und übernachten gern geschützt vor den Räubern Fuchs, Wolf, Uhu, Waschbär oder Marderhund auf dem Wasser.

Bis zu achtzig Stundenkilometer

Sie im Flug zu treffen, ist bei Geschwindigkeiten von bis zu achtzig Stundenkilometern ebenfalls nicht leicht. Das Mitschwingen mit der Waffe und Abdrücken im richtigen Moment, sodass die Gans quasi in die Munition hineinfliegt, will geübt sein. Verwundung durch Bejagung ist leider ein Thema. Die Jagdregel lautet, erst, wenn die Latschen (jagdsprachlich für Gänsefüße), oder noch besser, das Auge der Gans zu erkennen ist, ist sie nah genug, um sie sicher schießen zu können. Ein Jagdhund muss dabei sein. Der Ausdruck „in die Binsen gehen“ – für Scheitern – stammt von der Gänsejagd. Fällt die getroffene tote Gans ins Schilf, findet sie nur der Hund und apportiert sie, damit sie noch als köstlicher Wildgänsebraten auf dem Tisch landet.

Die Gans gilt neben dem Raben als der klügste Vogel. Otfried Preußlers „Kleine Hexe“ hat wahrscheinlich nur deshalb einen Raben als Assistenten und keine Gans, weil Gänse drei, manche auch fünf Kilo wiegen, etwas schwer für die Schulter einer einhundertsiebenundzwanzig Jahre jungen und entsprechend zartgliedrigen Hexe. Ihr Abraxas hat aufgrund seines magisch hohen Alters und seiner Wohngemeinschaft mit einer Hexe natürlich einen anderen Bildungsstand und ein anderes Sprachvermögen als jede Wildgans. Auch der berühmte Gänseverhaltensforscher Konrad Lorenz besaß einen Raben, aber wohl keine weiter gehenden übernatürlichen Fähigkeiten. Und doch konnte er das Geschnatter seiner zahm in einer Hausgemeinschaft mit ihm lebenden Gänse derart blendend verstehen, dass ihm nicht nur seine Lieblingsgans Martina auf Schritt und Tritt folgte. Er verstand das herzzerreißende Klagen des von ihm an Mutters statt betreuten „Gänsekindes“ (Lorenz), wenn er außer Sicht geriet, so gut wie ihre anderen gänsesprachlichen Artikulationen.

Der 1989 verstorbene Biologe, Mediziner und Begründer der Vergleichenden Verhaltensforschung schildert in seinem Buch „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ anschaulich, dass das Zwiegespräch Mensch-Tier für ihn keine Hexerei war. „Wenn ich auf einem Spaziergang in den Donauauen den sonoren Ruf des Raben höre und auf meinen antwortenden Ruf der große Vogel hoch droben am Himmel die Flügel einzieht, in sausendem Fall herniederstürzt, mit kurzem Aufbrausen abbremst und in schwereloser Zartheit auf meiner Schulter landet, so wiegt dies die sämtlichen zerrissenen Bücher und sämtliche leer gefressenen Enteneier auf, die der Rabe auf dem Gewissen hat.“

WIEBKE HÜSTER

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