Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.2021

Warum die Gams verschwindet

Die Population der Gams wird auf etwa 15.000 Exemplare geschätzt. Damit schafft es das bayrische Symboltier beinahe auf die Rote Liste der bedrohten Tierarten. Schuld daran ist unter anderem eine absurde Auffassung des Jagdsports.

Ist die Jagd ein Sport? Eine Körperertüchtigung, ein Vergnügen, eine Zerstreuung, eine Begierde? Eine Meditation? Von David Sansone, Professor der klassischen Philologie und Emeritus der University of Illinois at Urbana-Champaign, stammt die Definition, Sport sei die rituelle Opferung körperlicher Energie. In dieser Begriffsdeutung ist eine Verbindung zur Jagd zu sehen – wie oft ist sie nicht anstrengend bis zur absoluten körperlichen Erschöpfung, ohne zu Beute zu führen? Allerdings lässt sich Jagd nicht vollständig als Sport erfassen.

Systematisierte Leistungsvergleiche zwischen Jägern etwa gibt es nicht. Sansones Thesen (wie in „Greek Athletics and the Genesis of Sport“ notiert) sind es, die einen lesenswerten Beitrag in dem 2015 erschienenen Band „Hofjagd. Weidwerk. Wilderei. Kulturgeschichte der Jagd im 19. Jahrhundert“ inspirierten, in welchem Tobias Neuhaus unter anderem darauf hinweist, dass die Sport definierende „Zweckfreiheit“ bei der Jagd nicht gegeben sei und auch die Jagdgesetze keine Regeln im Sinne der Spielregeln eines Sports seien. Das ist richtig: Jagdgesetze regeln vielmehr auch den Schutz der Kreatur vor Tierleid und gewährleisten die körperliche Unversehrtheit der Beteiligten. Jagd, und nach diesen Hinsichten ist sie eben kein Sport, verfolgt die Zwecke des Artenschutzes, des Artenerhalts, der Populationsregulierung und der damit einhergehenden Nutzung der Wildtiere als Nahrung.

Auf den Unterschied zwischen der Jagd einerseits und einem Kampf zwischen Gleichen andererseits hat José Ortega y Gasset hingewiesen. Der Jäger sei das handelnde Tier, seine Beute das leidende Tier, und das Gejagte sei eben nicht bei derselben Gelegenheit auch Jäger, sonst, schreibt Ortega y Gasset, „gäbe es keine Jagd“, sonst handele es sich um einen „Kampf, ein Ringen“.

Mit bis zu 50 Stundenkilometern bergab

Vielleicht gibt es kaum eine Jagd, bei der die „sportliche“ Herausforderung größer ist als bei der Jagd auf Gämsen – von den Jagdarten, bei denen keine animalischen Gehilfen wie Hunde, Pferde oder Falken zum Einsatz kommen. Mit bis zu 50 Stundenkilometern schießen die behenden Huftiere bergab, ihre hohe Zahl an roten Blutkörperchen garantiert die Sauerstoffversorgung, die für diese hochalpine Athletik erforderlich ist. Ihre Herzwand ist dick, das Gamsherz schafft so bis zu 200 Schläge pro Minute. Ihre Flucht im Winter stellt man sich noch schwerer vor, aber sie können ihre Hornschalen so weit spreizen, dass sie im harschigen Schnee weniger tief einsinken.

Die Gams, wie die Jäger zu Geiß und Bock gleichermaßen sagen, lebt im Berg auf 1000 bis 3500 Metern. 15.000, manche meinen, sogar nur noch 10.000 Stück zählt die Population in Deutschland, die sich von Bayern bis nach Franken und in den Schwarzwald verteilt. Aber das ist eine Schätzung, eine Ableitung aus den jährlichen Abschusszahlen, die seit Jahren sinken und bei knapp 4000 Stück liegen. Um den Bestand ist darum ein heftiger Streit zwischen Jägern und Tierschützern auf der einen Seite und den Bayerischen Staatsforsten auf der anderen Seite entbrannt. Das liegt daran, dass 80 Prozent der Lebensräume des Gamswilds den Bayerischen Staatsforsten gehören und diese in manchen Regionen etwa im Chiemgau und dem Berchtesgadener Land Gamswild ganzjährig zur Bejagung freigegeben haben, mit dem Argument, anders seien die für die Lawinenprävention so wichtigen Wälder nicht vor zu viel Verbiss durch die Gämsen zu schützen. Mit dieser rigiden Bejagung hat man es geschafft, dass die seltenen wilden Bergziegen nun zwar noch nicht auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten stehen, aber die Vorwarnstufe erreicht ist.

Auf den Irrsinn der mancherorts drohenden Gamsausrottung weisen Wildtierbiologen wie Dr. Christine Miller unermüdlich hin, ohne durchschlagenden Erfolg. Ein ordentliches Monitoring gibt es bisher nicht. Die Bayerische Landesanstalt für Wald- und Forstwirtschaft hat Ende des vergangenen Jahres ein Projekt gestartet, bei dem Gewebeproben erlegter Tiere entnommen werden. So soll Aufschluss gewonnen werden über die genetische Vielfalt, die Verteilung der Population und die Wege, auf denen sie ihre Lebensräume durchwandern.

Angepasst an das Hochgebirge

Die Gams zieht im Winter hinunter aus den Felsen in die bewaldeten Regionen auf den Südseiten der Berghänge, und doch fragt man sich, wie die Kräuter, Gras und Blätter und im Winter Raufutter fressenden Tiere Eiseskälte überstehen. Die Vorliebe für den Hochgebirgsraum teilt das Gamswild mit den Steinböcken, die wie sie zur Unterfamilie der „Ziegenartigen“ zählen. Die Steinböcke werden aber bis zu 140 Kilo schwer, die Gämsen nur bis zu 60 Kilo. Sie mögen von unterschiedlicher Statur sein, aber der Kälte trotzen beide Arten mit einem Fell, das dank Lufteinschlüssen enorm warm hält. Geruchssinn, Sehsinn und Gehör sind gleichermaßen gut und nicht nur zur Feindwahrnehmung notwendigerweise im Zusammenspiel geübt, sondern auch bei der artistisch schnellen Fortbewegung schon der Kitze in steilsten Lagen.

Steinböcke kommen in Europa, Asien und Afrika vor, Gamsrudel nur auf diesem Kontinent. Wer hier auf diese Arten trifft, kann die Hornträger dennoch gut auseinanderhalten. Die untere Hälfte des Gesichts und der Nasenrücken sind bei der Gams weiß, ihre Hörner kurz und dünn und erst am Ende gebogen. Ein Bärtchen trägt nur der Steinbock. Was der Jäger sich als Gamsbart an den Hut steckt, stammt in Wahrheit vom Rückenfell.

Die Jagd auf das Gamswild hat Züge eines Extremsports, wenn man sie auf die faire, alte Weise betreibt, ohne allradgetriebene Geländewagen, Seilbahnen, und extreme Weitschüsse von 200 bis 300 Metern, so, wie es Andreas Freiherr von Nolcken in den „Jahreszeiten eines Jägers“ beschreibt: „Es ist lediglich die Erschöpfung, die mich manchmal aus dem Gebirge vertreibt, aber schon bald zieht es mich wieder hinaus, auch wenn die Wolken in Augenhöhe hängen, die Kälte auf die Knochen dringt oder der Schneesturm heult.“ Warum man den sechzig Kilo schweren Gamsbock auf der Kraxe talwärts schleppen soll, erschließt sich nur noch wenigen. Darunter leidet das bayerische Symboltier Gams: unter dem Klimawandel, dem rücksichtslosen Alpintourismus, einer Auffassung von Sport, die nicht nur klassische Philologen absurd finden, sowie einem falsch verstandenen Försterehrgeiz, der selbst auf steilsten Felslagen Aufforstung um jeden Preis betreibt.

WIEBKE HÜSTER

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