Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.02.2021

O weh, Rocky Raccoon!

Niedlich, aber schädlich: Der Waschbär

Die Tierliebe von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren ist ganz unterschiedlich ausgeprägt. Als der Astronaut und Ingenieur Howard Wolowitz in der Fernsehserie “Big Bang Theory” beklagt, der bei seiner Mutter neu eingezogene Freund verursache unnötige Ausgaben wie “vierlagiges Toilettenpapier”, und meint, da könne dieser doch gleich ein Angorakaninchen verwenden, entgegnet der theoretische Physiker Dr. Sheldon Cooper, die würden fusseln und beißen.

Ungefähr so gut wie Angorakaninchen als Toilettenpapier eignen sich Waschbären als Haustiere. “Fun Fact”, wie Sheldon sagen würde: Obwohl sich Waschbären bereitwillig zähmen lassen und gerne mit Chips auf dem Sofa lümmeln (was man noch von keinem Wildtier in dieser Serie sagen konnte), kann es passieren, dass sie eines Tages ihre Sozialverträglichkeit verlieren und ein Heim verwüsten, dessen Zierde sie eben noch bildeten. Das geschieht bei weiblichen Waschbären, den Fähen, wenn sie geschlechtsreif werden. Dann nämlich wollen sie Platz um sich herum schaffen, Ruhe zum Werfen und ein genügend großes Revier zur Nahrungssuche für die Kleinen. Von dem Moment an kann man sie nur noch aussetzen oder sie, wenn man an ihnen als Haustier zu sehr hängt, kastrieren lassen. Letzteres mit traurigen Folgen: Kastrierte Waschbären neigen zu Fettleibigkeit, verlieren das Interesse am Dasein und sterben an Nierenversagen.

Waschbären seien Einzelgänger, behauptete der Tiermediziner, Zoologe und Verhaltensforscher Bernhard Grzimek noch 1988, ein verzeihlicher Irrtum, denn die nicht leicht zu beobachtenden nachtaktiven Nahrungsgeneralisten waren damals erst wenig mehr als ein halbes Jahrhundert in Deutschland wildlebend. 2001 korrigierten Hohmann und Bartussek ihre Charakterisierung als ungesellig und beschrieben “den putzigen Immigranten aus Amerika mit der typischen Gesichtsmaske” vielmehr als Agenten eines dreiklassigen Sozialsystems, zu dem die Mutter-Kind-Familie gehört, die phasenweise unterschiedlich eng gelebte Gemeinschaft erwachsener verwandter weiblicher Tiere sowie Bündnisse fremder Rüden. Hellsichtig war es jedoch, dass Grzimek zur “Vorsicht vor den Waschbären” mahnte. Die niedlichen Kleinbären mit dem immens flauschigen, Nässe zuverlässig abhaltenden und deswegen gern zu Pelzen verarbeiteten Fell, der spitzen Nase, den klugen Knopfaugen und dem ikonischen schwarzweiß gestreiften buschigen Schwanz verhalten sich opportunistisch gegenüber Menschen. Wer sie füttert, zu dem kehren sie zurück; dass es derselbe Zweibeiner ist, stellen sie durch Betasten des Gesichts fest.

Das Problem mit dem Kleinbären ist jedoch ein anderes. Zwar ist die Prädationswirkung von Raubsäugern wie ihm zweifelhaft und schwer nachweisbar. Das heißt, man kann einer Tierart, die andere Tierarten frisst, nicht unwiderlegbar deren Ausrottung oder Beinahe-Ausrottung anlasten. Aber Wildtierbiologen sagen auch: Weg ist weg. Und das bedeutet, dass beispielsweise die auf der Roten Liste bedrohter Tierarten stehende Sumpfschildkröte bald ausgestorben sein könnte, wenn Waschbären nicht wirksamer an der Jagd auf sie gehindert werden. Wo Waschbären die schwimmende und schlecht flüchtende Delikatesse erwischen, enden Exemplare von Emys orbicularis nicht selten ohne Extremitäten: Die hat ihnen Procyon
lotor abgebissen. Waschbären behandeln Sumpfschildkröten wie wir einen Apfel, den wir auf der Wanderung pflücken und dann, halb aufgegessen, in die Hecke werfen.

Waschbären kommen in die Hinterhöfe und Gärten, kippen Mülltonnen um und treiben allerhand Schabernack. Sie klettern an Regenrinnen empor und legen den abgedeckten Dachziegel, unter dem hindurch sie ins Schützende, Warme schlüpfen, hinter sich wieder zurück, so dass der dumme, dumme Mensch keine Ahnung hat, was sich unter seinem Dach eigentlich abspielt. In Mittel- und Nordamerika, wo der Waschbär heimisch ist, wird er daher betrachtet wie ein Fuchs: als schlauer Alleskönner. Wegen der gegenüber dem Angorakaninchen vorteilhafteren Fellqualität wurden in den dreißiger Jahren dann auch in Europa Waschbären in Pelztierfarmen gezüchtet. Das Geschäft wollte aber nicht so richtig anlaufen, die amerikanischen Felle blieben billiger. So schloss man die Pelzfarmen wieder. Ganz offiziell genehmigte das nationalsozialistische Reichsjagdministerium 1934 die Aussetzung eines Kleinbärenpaares. Seither leben und vermehren sich die Neozoen hierzulande. Den albernen und verkehrten deutschen Namen gab man ihnen, weil man in Gefangenschaft eine Übersprungshandlung beobachtet hatte: Das Tier zog seine Vorderpfoten wieder und wieder durchs Wasser. Mit Waschzwang hat das jedoch nichts zu tun: Ein Waschbär in Freiheit zieht seine Pranken durchs seichte Wasser, um Kleinstlebewesen herauszuschnappen.

Das englische Wort raccoon geht auf amerikanische Ureinwohner zurück. Die Powhatan nannten ihn “aroughcun” – “das Tier, das mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratzt”. Die Pfoten bleiben in der Tat das Verblüffendste am Waschbären. Hat er mit ihnen stundenlang im Seichten eines eisigen Flusses gefischt, nimmt er sie heraus, heizt sie in Minuten hoch, bis sie dampfen, und alles ist wieder fein.

Er ist süß. Aber er stört. Er frisst Bodengelege. Eine Million Tier- und Pflanzenarten werden in den nächsten Jahrzehnten aussterben, das sind fünfzig Prozent aller wissenschaftlich bestätigten mehrzelligen Lebewesen. Auf DAISIE (Delivery of Alien Invasive Species in Europe), der im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten Liste eingewanderter Räuber, ist der Waschbär 2006 unter den Top Ten. Staupe, Räude oder Waschbärtollwut, die wir glücklicherweise noch nicht haben, tragen nicht dauerhaft zur Waschbärdezimierung bei. Nur systematischere Bejagung durch Menschen könnte dieses Ziel erreichen.

WIEBKE HÜSTER

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