Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.2021

In Richtung Mümmelhimmel

Hinter dem Tod des Hasen steckt schon lange kein hinterlistiges Igelpaar mehr. Die großen Populationen werden seit langem immer kleiner. Der Dichter Ted Hughes fängt die Zerbrechlichkeit ihrer Existenz ein.

Zwischen den beiden schönsten Darstellungen des Hasen in der Kunst liegen fünfhundert Jahre. Aber so klar der Wettlauf von Hase und Igel im Märchen am Ende für den raffinierten, kaninchengroßen Stachelpelzträger und Betrüger ausgeht, so schwer zu entscheiden wäre, ob die Bildende Kunst oder die Literatur den Feldhasen wesensgenauer porträtiert – ein Wildtier, das noch immer biologische Rätsel aufgibt. Gewiss ist Albrecht Dürers 1502 entstandene aquarellierte Zeichnung eines Feldhasen derart detailgenau, dass man meint, die Tasthaare am Äser von Lepus europaeus zittern zu sehen. Alles ist in diesem Porträt, das den schräg zum Betrachter hin ausgerichteten Offenlandbewohner auf dem Bauch liegend zeigt, exakt erfasst: das am Boden Geduckte seiner Haltung, das die nach oben ragenden Hüften der untergezogenen Hinterläufe noch betonen, die Knochigkeit des langbeinigen und bis zu 60 Stundenkilometer schnellen Tiers, die zwischen weiß, grau, schwarz und braun schimmernde Flauschigkeit des Hasenfells, die seitlich am Kopf sitzenden, aufmerksamen Augen, schließlich die nach außen aufgestellten langen Löffel mit den schwarzen Spitzen, nicht zu vergessen die von den Jägern so bildhaft Windfang genannte empfindliche Nase.

Dürers die Einbildungskraft anregender Darstellung ist fast abzulesen, dass Geruchssinn und Gehörsinn der Hasen fabelhaft ausgebildet sind. Ted Hughes’ ein halbes Jahrtausend nach Dürer geschriebenes Gedicht „The Hare“ fängt die Zerbrechlichkeit der Existenz des mit drei bis fünf Kilogramm bei einer Körperlänge von 50 bis 70 Zentimeter doch leichten Fluchttiers gefühlvoll ein. Zuerst nennt er ihn einen Elf, um das Zauberische des dämmerungs- und nachtaktiven Hasen abzubilden: „That Elf / Riding his awkward pair of haunchy legs“ – dieser Elf, der sein ungelenkes Paar Schlegel reitet –, so beginnt das Gedicht. Man sieht ihn förmlich vor sich stehen, den merkwürdigen, langohrigen Kobold, „That weird long-eared Elf“.

Der Hase bricht tot zusammen

Doch gleich darauf bricht Hughes die magische Stimmung des in Wirklichkeit seltenen Anblicks, indem er angibt, wo dieser Hase aufgetaucht ist, nämlich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts: „Wobbling down the highway“, die Autobahn hinunterwankend. Hoppelnd, würden die Jäger sagen, die Rücken, Hoppeln und Flüchten als die drei Fortbewegungsarten des Hasen an den Spuren unterscheiden können. Das langsame, von Pausen unterbrochene Rücken, mit dem das Tier beim Äsen vorwärtszieht, zeigt parallel mit ganzer Sohle vor den Vorderläufen aufsetzende Hinterläufe und Vorderläufe, die auf einer Linie aufkommen. Im Hoppeln hinterlassen die Hinterläufe immer noch den ganzen Sohlenabdruck, allerdings setzen diese jetzt leicht auswärtsgedreht auf wie Tänzerfüße. In der flüchtenden Fortbewegung schließlich drücken sich die Hasen nur noch mit den Zehen ab.

Dreiundsiebzig Mal flüchtet der Hase die Ackerrinne im vermeintlichen Wettlauf mit dem Igel entlang, dessen mit ihm leicht zu verwechselnde Igelfrau den Hasen immer schon am Ziel erwartet und so tut, als wäre sie ihr Mann. Beim vierundsiebzigsten Versuch zu gewinnen, was mit keiner häsischen Fortbewegungsart zu gewinnen ist, bricht der Hase tot zusammen. „The Hare is a very fragile thing“, sagt der Dichter. In Wirklichkeit sind es nicht hinterlistige Igelpaare, die das zarte Hasenherz in Todesgefahr bringen – in Wirklichkeit ist, dies nur nebenbei, der Igel auch ein Einzelgänger, genau wie der Hase. Zu dessen natürlichen Feinden zählen nicht Igel, sondern Füchse, Marder, Hermeline, Uhus, Habichte, Rabenvögel, Mäusebussarde, Milane und Weihen. Letztere haben es besonders auf die kleinen Junghasen abgesehen, von denen neunzig Prozent aus dem Kindesalter nicht herauswachsen. Arme Häsin.

Bauern stehlen ihren Lebensraum

Um die 24 Prozent Fett enthaltende Hasenmilch zu produzieren, die ihre Babys mit einmaligem Stillen einen Tag lang satt macht, sind eiweißreiche Kräuter wichtig. Der reine Pflanzenfresser braucht außerdem Deckung, Brachen und trockenen, warmen Boden, denn anders als das Kaninchen benutzt er keinen Bau, sondern ist besonders als Junghase von 100 Gramm Geburtsgewicht der Witterung schutzlos ausgeliefert.

Die großen Hasenpopulationen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts werden seit langem immer kleiner. Daran ist, wie bei anderem Niederwild und bei Singvögeln, die intensivierte Landwirtschaft schuld. Bauern sind es, die dem Hasen den Lebensraum stehlen, Pestizide ausbringen, mit riesigen Erntemaschinen die Hasenkinder in der Wiese zerstückeln, wo die Hasenmutter sie vermeintlich sicher abgelegt hat. Wenn mehr mehrjährige, mindestens zwanzig Meter breite Brachen in der industrialisierten Feldflur angelegt würden, könnten Junghasen besser geschützt sein vor Prädatoren, vor allem dem gefährlichen Fuchs.

„Wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur“

Auf tödliche Gefahr reagiert der Hase mit quäkenden, klagenden Schreilauten. „The Hare is a very fragile thing“, schreibt Hughes, und erst im zweiten Teil des Gedichts begreifen wir, wie entsetzlich zerbrechlich: „Who is it, at midnight on the A30/The Druid Soul,/The night-streaker, the sudden lumpy goblin / That thumps your car under the belly/Then cries with human pain…“. Das stetig wachsende Verkehrsaufkommen führt dazu, dass von den überlebenden 10 Prozent der Junghasen nicht wenige auf der Straße sterben.

Im Frühjahr zählen die Jäger die Hasen. Nach Einbruch der Märzdunkelheit umfahren sie die Felder, während ihre Beifahrer mit Lampen die Äcker ableuchten. Schauen orange Augen zurück, ist es ein Hase: „As if her retina / were a moon perpetually at full“. Scheint der echte Mond am Himmel, kann man sie beobachten, äugend, wachsam hochaufgerichtet auf den Hinterläufen, „the loveliest face listening“. Bei der Beschreibung des Hasengesichts imaginiert Hughes die Hand Gottes, die Hand des Künstlers, die den zartesten Strich ausführt, „the daintiest pencellings“ – als habe er die Wimpern von Dürers Hasen vor Augen. „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur“, lautete die Ästhetik des Renaissance-Künstlers, der seinen Hasen als ein Trompe-l’Œil auf weißem Untergrund zeichnete wie eine naturwissenschaftliche Skizze. Und das aus dem Gedächtnis, denn ausstopfen konnte man 1502 noch nicht.

WIEBKE HÜSTER

Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Zur Verfügung gestellt von Frankfurter Allgemeine Archiv.