Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2021

Die Bedeutung der Waldschnepfe

Früher hieß es, dass bei schlechtem Wetter zur aktuellen Jahreszeit die Aussicht auf die kommende Schnepfenjagd schlecht sei. Welche verrückten Legenden hegen sich noch um diesen Vogel?

Als es noch nicht so war, dass die Europäer ganzjährig Avocados und Erdbeeren aßen, war das Jahr nach Licht und Temperaturen unterteilt. Wie lange es hell und ob der Boden noch gefroren war, bestimmte, was draußen zu tun war. Feste markierten die Übergänge und Höhepunkte. Die religiösen Riten gaben den das Jahr einteilenden Kirchensonntagen die Namen. Die Jäger richteten ihr Tun nach den Balz- und Brutzeiten und den durch den Naturkreislauf von Werden und Vergehen bestimmten Jagdzeiten aus. Warteten sie auf den Frühling und die Rückkehr der Zugvögel, zählten sie die Fastensonntage vor Ostern ab, um zu rekapitulieren, wie der Schnepfenzug zeitlich verlief und wann die Jagd erlaubt war: „Invocabit – nimm den Hund mit / Reminiscere – Putzt die Gewehre / Okuli – da kommen sie / Lätare – Das ist das Wahre / Palmarum – Trallarum / Quasimodogeniti – halt, Jäger, halt, jetzt brüten sie!“

War das Frühjahr aber kalt und nass wie dieses, bot das für die Schnepfenjagd traurige Aussichten. Dann ging der Kirchensonntagsreim anders: „Reminiscere – Noch Eis und Schnee / Okuli – sie sind nicht hie / Laetare – nicht einmal rare / Judica – noch keine da / Palmarum – Trallarum.“

Dass Jäger wahre Dichter sein können, sieht man gerade daran, dass nicht jede Zeile gleich verständlich ist: „Trallarum“?

Richtig hingegen war die frühe Beobachtung, dass die Waldschnepfen warmes und diesiges Wetter lieben. Um Vollmond herum kann man sie an Frühlingsabenden am besten sehen, die heimlichen Vögel mit den dünnen, langen, am Ende leicht gebogenen Schnäbeln. Ihre Balzflüge in der Dämmerung halten von Mitte März bis Ende Mai an. Wer dann an lichten Stellen, an Schneisen oder am Rand des Waldes steht, wird sie dreißig oder vierzig Meter hoch über den Baumkronen fliegen sehen und sie puitzen und quorren hören. In der Jägersprache heißt dieses Naturschauspiel Schnepfenstrich. Dass sie balzen, also werben, bedeutet indes leider nicht unbedingt, dass sie dort auch brüten, denn die Zugvögel beginnen die Balz oft schon unterwegs. Von den Vorbergen des Himalayas bis nach Mitteleuropa finden sie ihr Habitat in Wäldern.

Zauberhafte Legenden

Dabei ist ihr weiß-grau-braun-ockerfarbenes Gefieder so meliert, dass man die Waldschnepfe weder im Laub- noch im Nadelwald leicht entdeckt. Um einen Vogel, der so besonders aussieht, ranken sich naturgemäß zauberhafte Legenden. So soll eine Waldschnepfe die Spuren der Heiligen Familie auf ihrem Weg nach Ägypten verwischt haben. Die Jungfrau Maria soll dem Vogel zum Dank die Heimlichkeit geschenkt haben, dass „man niemals ihr Nest solle auffinden können“, wie es in Ernst und Luise Gattikers Buch „Die Vögel im Volksglauben“ heißt.

Und tatsächlich gibt es wohl kaum eine Vogelart, über deren Brutbestände man so wenig weiß wie über die der Waldschnepfe. Die Jagd auf sie ist darum im Frühjahr, der Balz-, Zug-, und Brutzeit, verboten, und der Jäger darf mit ihrem Fleisch nicht handeln, sondern es nur selbst essen. Da das in etwa 300 Gramm leichte Tier auch eher eine Vorspeise ist, empfahlen Kochbücher des neunzehnten Jahrhunderts, jedem am Tisch auf jeden Fall eine ganze Schnepfe zu servieren. Jäger ehren die essbaren Wildtiere, indem sie diese möglichst komplett verwerten. Die Innereien des Vogels heißen zubereitet Schnepfendreck, und das galt nicht nur in Zürich als Delikatesse: „D’Bure essed Schitz und Speck / und d’Herre Schnepfedreck.“ Ihre feinen Federn am Flügelbug besitzen stabile Kiele und wurden deshalb als „Malerfedern“ geschätzt.

Moby Dick

Überraschenderweise taucht der „Woodcock“ in einem Roman von Weltgeltung und eigentlich an einer Stelle auf, an der man ihn am wenigsten erwartet hätte – da das Buch schließlich vom Walfang handelt. Aber in Herman Melvilles 1851 erschienenem „Moby Dick“ heißt es in der Beschreibung der ersten Nacht, die Ismael und Queequeg im Gasthaus das Zimmer teilen: „Endlich löschte er das Feuer, packte achtlos den kleinen Götzen und stopfte ihn so nachlässig zurück in seine Gregotasche, als sei er ein Waidmann, der eine tote Waldschnepfe in seinen Beutel steckt.“ Vielleicht war es kein Zufall, dass Melville der mancherorts als Hexenvogel geltende Woodcock ausgerechnet an dieser Stelle eingefallen ist, wo es um Queequegs magische religiöse Riten geht. Außerdem waren die Bestände der Waldschnepfe damals in weniger ausgebeuteten und von Menschen durchkämmten Wäldern natürlich höher.

Dass es sich in „Moby Dick“ um die amerikanische Schnepfe handelt, von der sich die europäische unterscheidet, wussten die forschenden Zeitgenossen des Schriftstellers bereits. Genau beschreibt Georg Landau in seinem 1849 erschienenen, mehrbändigen Werk „Beiträge zur Geschichte der Jagd und Falknerei in Deutschland“ das Verhalten des unter dem lateinischen Namen Scolopax Rusticola bekannten Vogels: „(…) und im Herbste streicht die Schnepfe stumm“.

Auf ihre Nützlichkeit hin überprüft, sprach im Jahrhundert der Industrialisierung für die Waldschnepfen, dass sie Engerlinge und Schnecken fressen. Regenwürmer sind die hauptsächliche Nahrung. Bereits 1795 hatte der Naturforscher Johann Matthäus Bechstein unter anderem die Querzeichnung des Kopfes vorgestellt, die es leicht macht, zu erkennen, dass man keine Bekassine vor sich hat: „Der Kopf ist klein, schmal, erhaben, mit einer hohen Stirn (…), auf dem Scheitel bis zum Nacken mit vier schwarzbraunen und drey rostgelben Queerbinden gezeichnet; Gesicht, Backen und Kehle weißlich mit schwarzen Sprenkeln…“

Die zu den Watvögeln zählende Art hat Gelege von immer vier Eiern, das Tier wird etwa vier Jahre alt. Waldschnepfen kennen keinen Geschlechterdimorphismus, Männchen und Weibchen sind auch nicht an der Färbung des Gefieders sicher zu unterscheiden. Dank ihrer hochstehenden Augen besitzen sie eine Dreihundertsechzig-Grad-Sicht. Dass die Schnepfe dumm sein soll, ist eine genauso irrige fabelhafte Übertragung wie die blöde Ziege oder Kuh. Näherliegend ist der dem eingangs geschilderten, Schnepfenstrich genannten Balzflug entlehnte Ausdruck „Auf den Strich gehen“. Manchmal ist es schon erstaunlich, was sich Tiere allein verbal von Menschen gefallen lassen müssen.

WIEBKE HÜSTER

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