Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2020

Der schönste und gerissenste Wilde

Töte das Huhn mit dem ersten Biss: Der Fuchs ist ein Opportunist mit äußerst vielfältigem Speiseplan. Auch die Literatur profitiert von den vielen Facetten dieses anmutigen Wildtiers.

In Johann Wolfgang von Goethes „Reineke Fuchs“ wird der Titelheld vor den Löwen König Nobel zitiert und angeklagt, die anderen Tier-Untertanen beleidigt, ihnen Würste gestohlen oder die Frau verführt zu haben. War auch so. Als es ihm so an den Kragen geht, lügt er, dass sich die Balken biegen – und schlau und dreist, wie er ist, schafft er es, sich rauszureden, indem er die Gier der anderen nach Schätzen weckt, die er ihnen zu zeigen verspricht. Mit Gier kennt er sich aus. Als es wieder ernst wird, überlegt er mit seiner Frau, ob das Exil in Schwaben vielleicht das Richtige sei, schließlich gebe es dort „Hühner, Gänse, Hasen, Kaninchen und Zucker und Datteln, Feigen, Rosinen und Vögel von allen Arten und Größen“.

Da haben wir den mittelalterlich inspirierten Speiseplan des Opportunisten, wie Goethe ihn sah – weitgehend korrekt, wenngleich nicht ganz vollständig. Rehkitze frisst der Fuchs auch. Nur in einem irrt Goethe. Jeder Fuchsmagen, den ein Wildbiologe öffnet, enthält etwas anderes, Gans allerdings nicht. Goethe irrt, aber er ist nicht allein. Ernst Anschütz dichtet 1824 „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“. Das Lied ist ein Mythos, Fuchs du hast das Huhn gestohlen, kann es allenfalls heißen. Denn Ganter bewachen ihren Nachwuchs scharf, sich mit ihnen anzulegen muss man sich gut überlegen.

Ein vornehmer Führer in die Unterwelt

„Gib es wieder her“ (das Huhn)? Darüber kann der Fuchs nur lachen. Zu spät! Oder wie es in Roald Dahls „Der fantastische Mr. Fox“ heißt: „Always kill a chicken in one bite.“ Der Fuchs hat einen ungewissen Mageninhalt, aber seine 42 Zähne sind scharf und spitz und reißen seine Beute todsicher auf. Der Fuchs ist ein von Alaska bis Ägypten lebender Prädator, kleiner zwar als Wolf und Luchs, nur 4,5 bis 14 Kilo schwer, mit einer Lunte, die noch einmal halb so lang ist wie der bis zu 90 Zentimeter messende Körper von Vulpes vulpes, aber doch ein Raubtier. „I used to steal birds but now I am a newspaper man.“ Journalismus als bürgerliche Existenzgrundlage geht eine Weile gut, rückfällig geworden rechtfertigt sich Mr. Fox vor seiner Frau damit, er sei eben „ein wildes Tier“. Das vergessen wir gern.

Beim Wolf sieht man die Schafsrisse. Der eben erst wieder angesiedelte Luchs lebt scheu und tief im Wald verborgen. Was Füchse reißen, sehen wenige. Denn die Hühner, die früher hinter jedem Haus umherliefen, gibt es heute nicht mehr. Die Haushühner haben den Fuchs ernährt, darum waren die Menschen hinter ihm her. Je ferner, scheint es, ein Prädator dem Alltagsleben heute ist, umso emotionaler das Engagement für ihn. In dieser Rangordnung der dem Menschen gefühlt nahen Wildtiere nimmt der zur Gattung der Caniden, der Hundeartigen, zählende Fuchs einen besonderen Platz ein. Bereits vor 16.000 Jahren ließen sich Menschen mit ihm begraben, als wäre er ihr Schoßhündchen gewesen oder der vornehmste rituelle Führer in die Unterwelt. Er ist der schönste, gerissenste Wilde, weswegen man ausgerechnet ihn ins Häusliche locken möchte. Auch scheint er der Anthropomorphisierung seit den Fabeln des antiken Dichters Äsop von allen Tieren die interessantesten Motive zu liefern.

Auch Cheeseburger sind Fuchsnahrung

Selbst in England, wo die Hundemeute den Reitern voran den Fuchs hetzte, heißt es, Fuchsjagd sei „das Unaussprechliche, das in Verfolgung des Nicht-Essbaren geschehe“. Tierschutz hat die Vorstellung von der Jagd als Sport erledigt. Ein Übriges tut die Individualisierung des Fuchses, der wie der Hund nicht gegessen wird; sie ist ein literarisches Projekt des Menschen. In dem Klassiker „Der Wind in den Weiden“, einem Buch über die Freundschaft zwischen Wasserratte, Maulwurf, Dachs und Kröte, zählen Füchse naturgemäß nur zu den Nebenfiguren: „Ganz in Ordnung auf ihre Art, aber nun ja, trauen kann man ihnen nicht.“ Als Beatrix Potter, Erfinderin von Englands Heldenhasen Peter Rabbit, die süßen Charaktere leid war, schrieb sie 1912 „The Tale of Mr. Tod“: Da geht der wissenschaftlich erforschte Burgfrieden zwischen Dachs und Fuchs auf brutalste Weise kaputt.

Individualisierung und Vermenschlichung der Füchse haben mit Filmen über deren niedliches städtisches Überleben neue Motive gewonnen. Den Energiebedarf von 120 Kalorien pro Kilogramm Körpergewicht kann der Stadtfuchs mit einem aus der Mülltonne gezerrten Cheeseburger mit Pommes spielend decken. Außerhalb der Großstädte aber ist Fuchsbejagung artenschutzrelevant. Im Frühjahr und im Herbst zählen die Jäger Hasen. Der Bestand des Indikatortiers ist auch eine Aussage über den Status der gefährdeten Kiebitze, Wachteln und Rohrweihen. Wiesenweiherbrüterschützer stellen fest, dass vor allem nachtaktive Räuber, Wildschwein und Fuchs, massiven Einfluss auf den Bestand nehmen. Artenschutzmäßig gut wäre, ein Geheck Füchse auf 1000 Hektar zu haben, nicht mehr. Tollwut gibt es nicht mehr, deswegen liegt der tatsächliche Bestand um das Zehnfache höher. 8,5 Kilometer läuft ein hungriger Fuchs pro Nacht und frisst die brütenden Hennen vom Gelege herunter. Wundert es, wenn das Auerwild verschwunden ist?

Leider ist es eine Legende, der Fuchs lebe hauptsächlich von Beeren und der gekonnten Ausführung des im Schnee noch besser gelingenden Maussprungs. Mit Blühstreifen allein rettet man darum die Rebhühner nicht. Der Fuchs ist nirgends im Bestand bedroht, er bedroht seinerseits die Artenvielfalt. Der alles bis hin zum Aas fressende Anpassungskünstler kommt in Berlin und in Balderschwang zurecht. In der Dämmerung des Nachmittags geht er derzeit in seinem roten Winterbalg auf die Jagd. Seine Gangart, das Dressurpferd-artige Hochheben der oft schwarzen Läufe und das bei diesem Traben präzise Hineinsetzen der Hinterläufe in die Abdrücke der Vorderläufe, das sogenannte Schnüren, macht ihn draußen gut unterscheidbar vom Hund.

In einer der zauberhaftesten Fuchsdichtungen, Ted Hughes’ „The Thought-Fox“, laufen Natur und Kunst in eins, spiegelt der Dichter seine Einsamkeit in der des jagenden, schnürenden, die kalte Nase in Blätter, Zweige und Schnee steckenden Wildtiers, und da ist es, das Gedicht, wie im Nu, wie im Maussprung geschrieben.

WIEBKE HÜSTER

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