Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.06.2020, Nr. 134, S. 13

Der Luchs, das Sorgenkind der Naturschutzfamilie

Nicht nur das dichte Straßennetz und der Verkehr machen es Luchsen schwer, eine stabile Population aufzubauen

“Heimlich” lautet die korrekte wildtierbiologische Beschreibung für den Luchs, nicht etwa “scheu”. Wirklich verhalten sich die naturgemäß in dichten Wäldern lebenden Großkarnivoren wie eine Illustration der Redewendung “heimlich, still und leise”. So heimlich sind sie, dass sie nicht einmal in der Literatur Spuren hinterlassen haben. Die neueren Schriftsteller entschuldigt dabei, dass der Luchs seit zweihundert Jahren als nahezu ausgerottet gelten muss. Die Forschung spricht davon, der “kulturelle Rucksack” des Luchses sei leicht.

Wer sein Auftauchen in Märchen, Sagen, Fabeln und Gedichten zu vermeiden wusste, hat auch nicht den schlechten Leumund anderer Räuber. Dem Wald alle sieben Tage ein Stück Schalenwild abzuluchsen, ist verglichen mit dem federfliegenden blutigen Spektakel, das Fuchs oder Waschbär im Hühnerstall veranstalten mögen, eine blitzsaubere, schnelle Sache, ausgeführt in kalter Ruhe. Jemand habe “Ohren wie ein Luchs” darf hingegen als veraltetes Sprichwort gelten, kaum mehr verwendet. Vielleicht, weil es auch nicht ganz stimmt, der Wolf hört besser.

“Augen wie ein Luchs” ist treffender, der Nachtjäger sieht im Dunkeln phantastisch gut. Warum aber verhält er sich so diskret, verstohlen und geräuschlos? Anders als der Wolf, mit dem sich der Luchs in Deutschland die Bezeichnung Großkarnivor allein teilt – denn der Dritte, der Bär, ist (noch) nicht zurück -, verfolgt der Luchs seine Beute nicht ausdauernd. Er ist ein Ansitzjäger. Im Jagdglücksfall packt er das Tier, dem er auflauerte, nach wenigen weiten Sprüngen seiner langen Beine, setzt seine Fänge für einen präzisen, tödlichen Biss in die Kehle ein und begibt sich dann zu Tisch, beginnend mit den Keulen des erlegten Tiers.

Ist er für den Tag satt, bedeckt er den angefressenen Leichnam mit Laub. Eine ganze Woche wird er zurückkehren und alles Muskelfleisch verzehren. Das Fell zieht er dazu ab, die Eingeweide überlässt er Aasfressern. Dieses Fressverhalten trägt dazu bei, dass auch der “soziale Rucksack” des Luchses leicht ist. Der Wolf mag mitunter in eine Art Blutrausch geraten und dann auch mehr Schafe töten, als er fressen kann, was geschieht, weil er ein Rudeltier ist und das Verhalten dafür sorgt, dass seine ganze Familie satt wird. Der Luchs hingegen ist ein Einzelgänger.

Ein Kilo Fleisch pro Tag braucht der schäferhundgroße Luchs, am liebsten Reh, im Jahr um die fünfzig Stück. Er jagt aber auch Füchse, Gämsen, Marder und Mäuse. Selten nur vergreift er sich an Schafen oder Ziegen, Hasen machen nur zwei Prozent seiner Nahrung aus. Sein sonnengelbes mit braunen Sprenkeln überzogenes Fell verschwimmt mit dem Waldhintergrund, des perfekt getarnten Räubers zärtlichster Name ist Pinselohr, wegen der langen, witzigen Haarspitzen dort. Im Frühsommer kommen die neuen Zahlen des Luchsmonitoring heraus. Die modernen Technologien wildbiologischer Beobachtung, vor allem Fotofallen, setzen der Heimlichkeit entschieden Grenzen. Die Zahlen 2018/19 gehen von etwas mehr als achtzig Luchsen in Deutschland aus und etwa fünfzig Jungtieren.

Zum Vergleich: Die Population des auf eigene Faust eingewanderten Wolfs, der im Jahr 2000 erstmals Rudelstärke erreichte, ist längst auf etwa 1300 Tiere angewachsen. Der um 1850 ausgerottete Luchs aber ist seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts das Objekt hingebungsvoller Auswilderungsprojekte und bleibt dennoch das Sorgenkind der Naturschutzfamilie aus Ämtern, Verbänden, Naturschützern und Jägern. Im nächsten Jahr geht etwa das Auswilderungsprojekt “LIFE” im Pfälzerwald nach sieben Jahren zu Ende. Zwanzig aus den slowakischen Karpaten und der Schweiz stammende, dort auf Zehenspitzen in Lebendfallen eingefangene Tiere wurden im Pfälzerwald ausgewildert. Fotofallen auf tausend Quadratkilometern überwachen die Pinselohren in dem EU-geförderten, grenzüberschreitenden 2,75-MillionenSchutzprojekt. Zusammen mit den Beständen im Harz und im Bayerischen Wald ist auch mit den ausgewilderten Neu-Pfälzern noch lange keine überlebensfähige, stabile Population erreicht. Das dichte Straßennetz Deutschlands macht es schwer für die durchaus weit wandernden Luchse, von einem Wald in den nächsten zu gelangen. Das aber wäre wichtig, um genetischen Austausch zu garantieren. Wildbrücken über Straßen werden von den Tieren angenommen, kosten aber vier Millionen.

Umso wichtiger sind Geschwindigkeitsbeschränkungen an bestimmten Landstraßenabschnitten. Von den zwanzig Luchsen im Pfälzerwald sind vier gestorben, zwei davon im Straßenverkehr. Einer wurde mit einem Dorn in der Pfote gefunden. Das war möglich, weil die Tiere Senderhalsbänder tragen und so geortet werden können. Bewegt sich eines längere Zeit nicht mehr vom Fleck, wissen Wildbiologin und Projektleiterin Sylvia Idelberger und ihre Kollegen, dass etwas nicht stimmt. Der Dorn in der Pfote hatte bereits eine so üble Entzündung erzeugt, dass nur eine Amputation das Leben des Luchses hätte retten können. Wie aber soll ein dreibeiniges Raubtier jagen? Ein anderer Luchs hatte ebenfalls einen Dorn eingetreten. Als man ihn fand, war er bereits den Folgen der Entzündung und Blutvergiftung erlegen.

Das Leben der neu eingebürgerten Luchse ist fragil, ihre Fortpflanzung ein Spiel mit dem Schicksal. Ein Jahr füttert die Lüchsin ihre ein bis fünf Jungen, gleichwohl werden drei Viertel der Jungtiere nicht älter als zwei Jahre. Manche schaffen es, wenn sie auf sich allein gestellt sind, nicht schnell genug, sich selbst das Jagen beizubringen. Im Pfälzerwald, und das ist die wirklich gute Nachricht, haben das genaue Luchsmonitoring, die vertrauenschaffende Aufklärungsarbeit mit der Bevölkerung und ein Luchsparlament, in dem auch diejenigen frei sprechen können, deren Interessen als Schaf- und Ziegenhalter womöglich mit denen hungriger Luchse konfligieren, den Luchs ankommen lassen. Die Jäger helfen mit Informationen über ihre Sichtungen. Mysteriöse, unnatürliche Luchstode wie im Bayerischen Wald kamen nicht vor. Den Pfälzerwald durchstreifen inzwischen zehn dort geborene Jungtiere.

WIEBKE HÜSTER

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