Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.2020, Nr. 253, S. 16

Der kleine Sauhaufen

Nicht zu nahe kommen: Wildschweine sind die leisen Sumoringer unter den Wildtieren

Was haben Internet und antike Vasen gemeinsam? Menschen verwenden – oder verwendeten – diese Medien zur Illustration von Emotionen, zur Weitergabe von Informationen, als Speicherquellen aufwühlender Ereignisse. Wildschweine finden sich in dem einen wie dem anderen Medium repräsentiert – als Inbegriff animalischen Wütens. Es gab sie schon immer, schon in der Antike, und es gibt sie überall, in unseren Maisäckern, in unseren Wäldern, unseren Vorgärten und auf Berliner Kreuzungen. Die Omnivoren scheinen die leisen Sumoringer unter den Wildtieren zu sein, schwer und feist um die Körpermitte, dabei überraschend wendig. So glatt und glänzend allerdings die Ringer auftreten, so borstig und stachelig, braun, grau, schwärzlich, bewehrt mit den fürchterlichen Hauern und Mahlzähnen, die Sauen.

Ihre sprichwörtliche Schläue hat etwas geradezu Unheimliches. Wenn sich bei der Drückjagd Hunde und Treiber durch mannshohes Brombeergestrüpp kämpfen, liegen häufig die Schweine still verborgen einen Meter neben der Dornenschneise in der Dickung. Man hört sie nur nicht lachen. Abwechselnd von ihnen und den Krähen heißt es, sie könnten Spazierstöcke von Gewehren unterscheiden. Manchmal lachen sie auch nicht. Manchmal tauchen sie neben einem auf allen vieren durchs Gestrüpp kriechenden Jäger auf und blasen ihm ihren heißen Atem ins Gesicht, während sie ihn auf den Rücken werfen. Dann muss eine dieser todesmutigen Bracken eingreifen. Manche Jäger verdanken jagdlich geführten Hunden ihre körperliche Unversehrtheit. Das Internet lässt zitternde Spaziergänger berichten, sie seien zu Tode erschrocken, als sie auf Muttertiere gestoßen seien, und hätten um Leib und Leben fürchten müssen. Eine antike griechische Darstellung zeigt den hybriden Helden Herakles, auf seinen Schultern den gefesselten, gigantischen, erymanthischen Eber. Das Mann-Tier-Duo steht, einer Chimäre ähnelnd, einer großen Bodenvase gegenüber. Aus ihrer Öffnung ragt der Kopf des nicht im geringsten heldenhaften, aber sehr befehlsintensiven Eurystheus heraus: Panik im Blick, angesichts einer weiteren, unerwartet erfolgreich abgeschlossenen Mission seines Rivalen um den Thron von Mykene. Und hier werden die Nachteile des Internets gegenüber der antiken Vase anschaulich. Um sich vor einem Wildschwein in Sicherheit zu bringen, nützt es nichts, ins Internet zu flüchten. Sauen, oder Schwarzkittel, wie die Jägersprache Wildschweine auch nennt, verhalten sich allerdings selten wie Prädatoren. Zwar reicht der Anteil tierischer Nahrung bei ihnen nur von winters 2 Prozent bis sommers 30 Prozent, darunter sind aber jede Menge wirbellose Tiere, also Würmer, Insekten und Egerlinge. Im ganz unwahrscheinlichen Fall eines Angriffs muss man sich groß machen, Stöcke schwenken und laut sein.

Das sollte genügen, um vom Kontakt mit ihren vierundvierzig Zähnen verschont zu bleiben. Umgekehrt ist es klug, ihre Kessel, wie die kuscheligen Nester heißen, die sie bauen, weitläufig zu umwandern. Bevor die Bachen frischen, also ihren Nachwuchs zur Welt bringen, wühlen sie diese Kuhlen in den Waldboden und decken die Höhlen mit Ästen zu. Im Kessel herrschen dann bei Außentemperaturen um den Nullpunkt schnell behagliche 23 Grad. Die kleinen, bis zum Alter von fünf Monaten schön gestreiften Ferkel nennt man Frischlinge. Bache und Frischling, Frischling und Frischling identifizieren einander am Geruch. Jeder Nachkomme saugt an nur ein und derselben Zitze. Mit Rüssel und Füßen massieren die Frischlinge die Unterseite der Bache, um Milchproduktion und staufreien Milchfluss in Gang zu halten. Bald werden sich die Kleinen zusammenrotten. Zehn Jahre können Wildschweine werden, die meisten aber erreichen nur drei bis vier Jahre. Inzwischen denken Landwirte, Förster, Jäger, Naturschützer und alle ihre Schnittmengen an die Rauschzeit genannte Paarungszeit der Sauen eher mit Schrecken. Die Populationen wachsen stetig. Im Jagdjahr 2019/20 wurden 881 886 Wildschweine erlegt.

Wenn man bedenkt, dass das Schwarzwild nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch ausgerottet war – aufgegessen, könnte man sagen -, dann bedeuten diese gestiegenen Stückzahlen einen erstaunlichen Bestandszuwachs von Sus scrofa. Es ist vornehmlich die industrieartige Bestellung unserer landwirtschaftlichen Flächen, die den Sauenzuwachs befördert. Erstens gibt es irrsinnig viel zu fressen, zweitens kann schlecht gejagt werden in diesen monokulturellen Riesenflächen. Jäger sollten außerdem mehr Frischlinge schießen und mehr Bachen, nicht unbedingt aber die älteren Bachen. Schließlich kann man beim Schwarzwild mit seinen die Rotten anführenden Leitbachen durchaus von einer “matrilinearen Wissenskultur” sprechen, so Ulf Hohmann von der Forschungsgruppe Wildökologie der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft in Trippstadt. Er ist auch der Überzeugung, dass eine jagdliche Regulierung bei dieser Tierart “unrealistisch” ist: “Kein Mensch weiß, wie viele Wildschweine wirklich in Deutschland leben. Die einzige Orientierung bieten die Streckenzahlen der erlegten Sauen, die die Jäger liefern, aber diese Zahlen fluktuieren. Durch Jagd allein erreichen wir keine Bestandsreduzierung.”

Die Aufgaben, die Herakles zu meistern hatte, stellten ihn nie vor die Bewältigung quantitativer Probleme, mit Ausnahme der Hydra, der zwei Köpfe nachwuchsen, wo man einen abgeschlagen hatte. Dass der erymanthische Eber so gewaltig und schwer war, nicht eine Überzahl von gefährlichen Rotten war das Problem des Zeus-Sohns, der sich den Götterstatus hart erarbeiten musste, weil seine Mutter Alkmene eine Sterbliche war. Zweieinhalbtausend Jahre später ist das Wildschwein ein quantitatives Problem, nicht nur, weil es Wildschäden verursacht. Am 10. September wurde in Brandenburg eine zwei- bis dreijährige tote Bache aufgefunden, die an Afrikanischer Schweinepest verendet war. Damit war die gefürchtete Krankheit, die seit Jahren in anderen europäischen Ländern um sich greift, in Deutschland angekommen. Wer die horrenden Stückzahlen in deutschen Schweinemastbetrieben betrachtet, weiß, warum sich die Fleischindustrie vor dem ansteckenden, äußerst überlebensfähigen, für die Mastschweine, nicht für Menschen tödlichen Virus fürchtet.

WIEBKE HÜSTER

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