Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.2020, Nr. 182, S. 11

Das Reh ist nicht die Frau des Hirsches

Im Augenblick ist Blattzeit: Anfang August paaren sich im Wald die Rehe

Das Reh, die zierlichste, zahlreichste und beliebteste Wildart, stellt Jäger vor die vielleicht größten Herausforderungen vor dem Schuss. Die Entscheidung, ob dieses Stück, das sich da zeigt, erlegt werden kann – oder vielleicht sogar muss -, erfordert Jahre der Erfahrung. Das “Ansprechen”, wie die Jäger ihre Anamnese und Diagnose nennen, ist bei Rehbock und Ricke äußerst schwierig. Es geht um Alter und Zustand. Geschossen werden sollen zuerst die “Kümmernden”, wie die schwächeren Tiere in der Jagdsprache heißen. Auf keinen Fall sollten junge starke Böcke auf der Strecke bleiben, sollen sie doch die künftige Population robust und gesund werden lassen. An vielen Abenden klettern Jäger von den Hochsitzen wieder herunter, ohne dass ein Schuss gefallen wäre, auch wenn sie “Anblick hatten”, also Böcke, Ricken, Fuchs und Hasen auf Acker oder Feldrand sahen.

Ende Juli, Anfang August sind solche stillen Abende, an denen man das Fernglas gar nicht aus der Hand legen mag, häufig. In diesen Wochen paaren sich die Rehe. Den Lockruf der Geiß ahmt man nach, indem man auf einem Buchenblatt bläst: ein fiepsendes Geräusch, das den Bock todsicher aus dem Waldsaum hervorlockt. Man “blattet”, es ist “Blattzeit”. Es duftet nach hochstehendem Korn, nach Spitzwegerich, Wiesenkümmel, Pastinak, nach Bibernelle, Wiesenkerbel, Löwenzahn und Bärenklau, nach Schafgarbe, Wiesenbocksbart und Frauenmantel – kurzum: paradiesisch. Die Jäger sitzen bis tief in die Sommernacht, bis sie trotz Mond und Sternen ihren Hund unten am Fuß der sechs Meter hohen Leiter nicht mehr sehen können. Die Trophäe ist eine Erinnerung an solche Stunden.

Der bis zu 25 Kilogramm Gewicht und Schultermaß bis 60 Zentimeter erreichende, im Sommer rotbraune, im Winter graue Capreolus capreolus macht lustige, behende Sprünge, je kapriziöser, desto jünger das Stück. Auch das Gesicht des Tiers – schmal oder breit, ernst oder bambihaft, mürrisch mit Stirnlocke oder glatthaarig – verrät, wie weit es von seinem Höchstalter von zehn bis fünfzehn Jahren noch entfernt ist. Nach hinten steigt der Rücken des Rehs an, die Kruppe ist höher als der Widerrist, der kantiger wird beim älteren Reh. Es flüchtet zwar anmutig, aber nicht weit. Eher sind die heimlichen Tiere vorsichtige Verstecker und Heckenhocker. Das ist ihnen auch zu raten bei der derzeitigen Diskussion um die Wiederaufforstung. Das naschhafte Reh ist verschrien als Verhinderer der Waldverjüngung, als Klimagefährder also, der die frischen Weißtannen- und Buchentriebe abrupft und verkrüppelte, leidende’ Baumbabys stehen lässt, aus denen nie mehr etwas wird. Aber ernsthaft: Man schießt doch auch nicht, weil es ein Bienensterben gibt, plötzlich Singvögel!

Sicher, in Waldbaugebieten darf man keine Fehler machen. Äsungsflächen, wie sie für die das Außergewöhnliche liebenden Rehe angelegt werden, um sie mit 150 verschiedenen Kräutern baumlos satt zu machen, dürfen keinesfalls neben Aufforstungsflächen liegen. Auf Äsungsflächen muss man das Wild in Ruhe lassen, das sind keine Abschussflächen, die Waldverjüngungs- oder Aufforstungsflächen hingegen schon. Es ist wichtig, die Abschussplanung ganz detailliert zu differenzieren. Weibliche Stücke zu schießen und dabei in Kauf zu nehmen, dass irgendwo ein Kitz allein zurückbleibt, heißt Tierleid verursachen, und das ist ein Gesetzesverstoß. Eine gesunde Alterspyramide ist zu erhalten. Wenn es zu viele junge Tiere gibt, gibt es auch zu viele Territorialkämpfe. Dieser Stress hat mehr Verbiss kleiner Bäumchen zur Folge.

Eine Pilotstudie der Arbeitsgruppe Wildbiologie und Wildmanagement am Lehrstuhl für Tierernährung der Technischen Universität München hat bahnbrechende neue Erkenntnisse ergeben. Ist das Reh doch kein KonzentratSelektierer, also Sucher protein- und kohlehydratreicher Nahrung? Tatsächlich enthielt der Inhalt untersuchter Pansen der Wiederkäuer unerwartet hohe Faseranteile. Das könnte bedeuten, dass man Rehwild nicht zu protein- und kohlehydratreich ernähren darf. Sonst wird es Verbissschäden verursachen, um an die notwendigen Fasern zu kommen.

Während für den Förster Rehe im Wald Schädlinge sind wie für Städter Ratten oder Mäuse, lässt ihr Anblick das Herz jedes Waldbadenden höher schlagen. Am besten setzt man sich ruhig auf eine Bank und wartet ganz still ab. Irgendwann tritt eines heraus auf die Lichtung. Das nennt man den Vorhang-Effekt: Die Rehe stehen im Wald wie hinter einer Gardine am Wohnzimmerfenster, schauen hinaus ins Offene und vergewissern sich gründlich, dass die Luft rein ist. Oft ahnen wir gar nicht, wie nah bei uns, und doch unseren Blicken entzogen, sie sich aufhalten. Geschätzte 2,4 Millionen Tiere allein in Deutschland müssen ja auch irgendwo sein! 1,2 Millionen werden jedes Jahr geboren, und damit sie nicht überhandnehmen, muss gejagt werden. “Der Hirsch des kleinen Mannes” hieß das Reh oft, weil es nicht immer dem Hochwild zugerechnet wurde, dessen Jagd früher dem Adel vorbehalten war, sondern dem Niederwild, das auch für andere Jäger freigegeben war.

Umso erstaunlicher, dass viele recht wenig über die zur Familie der Cervidae wissen. Oft wird der Hirsch für das männliche Pendant des weiblichen Rehs gehalten. Total falsch, schuld daran ist Walt Disney. Für seine Verfilmung von Felix Saltens Romanvorlage “Bambi” machte er aus dem Rehkitz einen kleinen Weißwedelhirsch, weil diese Spezies die in Nordamerika meistverbreitete Schalenwildart ist, so dass die den Unterschied nicht erkennenden Deutschen dachten, Bambis Mutter sei das Reh, Bambi der Hirsch. Mit fast wildbiologischer Stimmigkeit hingegen hatte Horaz in seiner 23. Ode des ersten Buchs das Mädchen Chloe mit einem Capreolus capreolus verglichen: “Fliehst mich, Chloe, des Rehs schüchternem Kitzlein gleich, / dem auf pfadlosen Höh’n ängstlich die Mutter rief, / stets erbebend in Unruh, wenn ein Lufthauch im Wald sich regt.”

WIEBKE HÜSTER

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