Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2021

Ab durch welche Hecke?

Schon der Lügenbaron von Münchhausen und der gestiefelte Kater sollen Heldentaten im Angesicht des Rebhuhns vollbracht haben. Heute aber fehlt dem Vogel die Deckung vor seinen echten Feinden.

Ein niedersächsisches Landgut in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts: Hier lebt Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, Soldat, Landwirt und Jäger. Der Baron serviert Wildbret und unterhält seine Gäste mit Erzählungen unwahrscheinlichster Heldentaten in Feld und Wald und akrobatischer Stunts zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Doch mit der Kontrolle über seine Fabulierlust verliert er schließlich die Herrschaft über seine Narrative. Unter den Händen eines kriminellen, nach England geflüchteten deutschen Gelehrten werden die Abenteuer Münchhausens in der Fremde zu Geld. Durch die Rückübersetzung und Hinzuflunkereien des Sturm-und-Drang-Dichters Gottfried August Bürger sind sie bis heute unvergessen.

Die Tutorials des treffsicheren Lügenbarons – wie man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, auf einer Kanonenkugel fliegt oder mit dem Pferd durch die Fenster einer fahrenden Kutsche springt – vermitteln praktische Kenntnisse von unschätzbarem Angeberwert. Die ihm zugeschriebenen Jagdgeschichten sträuben jedem Hühnerhund das Nackenfell. Wie Münchhausen einige Dutzend Wildenten in Russland an sich bringt, obwohl ihm nur noch ein einziger Schuss in der Flinte geblieben ist, das muss Wilhelm Busch gekannt haben, als er Max und Moritz bei der Witwe Bolte Hühner stehlen ließ. Bei Wilhelm Busch binden Max und Moritz an verkreuzte Bindfäden Brotstückchen, die die Hühner dann fressen, wodurch sie sich anschließend final verwickeln. Bei Münchhausen ist es Speck, verbliebener Proviant im Jägerrucksack, den er kleinschneidet und an einer langen, zu einzelnen Fäden aufgedröselten Hundeleine festmacht und die Enten fressen lässt, worauf sie wie die „Perlen an der Schnur“ eingeholt werden können.

Nur einmal nicht gelogen

Der Baron von Münchhausen erfindet Bilder wie später von Salvador Dalí gemalt – etwa von dem Hirsch, dem inmitten des Geweihs ein Kirschbaum wächst, weil er ihn vor Jahren mit Kirschkernen beschossen hatte. Er lügt und lügt und lügt. Nur einmal nicht: „Ich ritt voran, um etwas aufzusuchen, und es dauerte nicht lange, so stand mein Hund vor einer Kette von einigen hundert Hühnern.“ „Ketten“ nennen die Jäger Familienverbände, in denen Perdix perdix, das Rebhuhn, bis zur Balzzeit im März/April lebt, und mit Hühnern meinen Jäger diese Rebhühner, nicht etwa Exemplare von Gallus gallus domesticus.

Dass es damals so viele wilde Hühner auf den Feldern gab, dass Haushühner nie geschlachtet wurden, sondern endlos weiter Eier legen durften, beweist auch eine andere literarische Quelle, das Märchen vom gestiefelten Kater. Der jüngste Sohn des Müllers erbt statt Mühle und Esel den Kater. Dieser verspricht, wenn der Sohn ihm Stiefel anfertigen ließe, bei der Existenzgründung behilflich zu sein. Als Erstes fängt er einen Sack voller Rebhühner und überreicht diese dem König im Namen seines Herrn, dem er nicht nur den Hühnerfang, sondern auch einen Grafentitel andichtet. Der König freut sich sehr. Bis er die Prinzessin dem vermeintlichen Adligen zur Frau gibt, muss der Kater erst noch ein Schloss an sich bringen, aber es sind die Rebhühner, mit denen der Aufstieg des kleinsten Müllersohns beginnt.Zweihundert Jahre nach dem Ableben Münchhausens ist das wunderschöne, grau-braune, höchstens 500 Gramm wiegende Rebhuhn nicht mehr ein Lebensmittel, das man vom Acker holt, sondern ein Tier, das unserer Unterstützung bedarf. Noch zwischen den Weltkriegen wurden 1,5 Millionen Hühner geschossen und damit 1,5 Millionen Mark verdient. Jeden Herbst durfte, um den Bestand zu erhalten, etwa die Hälfte der geschätzt vorhandenen Hühner geschossen werden. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre gab es in Deutschland nur noch ein Drittel davon, etwa 515.000. 2020 müssen wir von einem Zehntel dieser Zahl ausgehen. Daran sind nicht die Jäger schuld, sie können zählen, und sie tun es auch. Wodurch also ist die Zahl der Rebhühner seit 1980 europaweit um 94 Prozent gesunken?

Die guten Zeiten der Rebhühner

„Die guten Zeiten der Rebhühner endeten in den 1970er Jahren; durch Veränderungen in der Landwirtschaft wurde ihr Leben härter“, heißt es nüchtern auf der Internetseite der „Deutschen Wildtierstiftung“. Eines der Argumente in der Diskussion über Landwirtschaft lautet immer, man könne mit dem Biolandbau nicht eine Bevölkerung von 83 Millionen ernähren. Aber bevor es so richtig losging mit der Flurbereinigung und dem massenhaften Einsatz von Insektiziden und künstlichen Pflanzenschutz- und Düngemitteln auf deutschen Feldern, zählte die gesamtdeutsche Bevölkerung 78 Millionen. Man kann aus diesen Zuwachszahlen nicht erkennen, dass eine derart drastische Umstellung der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung notwendig gewesen sein soll, weil anderenfalls Hunger drohte. Damals waren Felder höchstens ein paar tausend Quadratmeter groß. Heute gibt es Äcker, die mehr als 100 Hektar groß sind: eine Million Quadratmeter. In den siebziger Jahren dachte man auch, es wäre toll, vor der Stadt Hochhaussiedlungen zu errichten und Hühnerfabriken zu bauen. Die deutsche Landwirtschaftsministerin nennt es Tierwohl, wenn Industrieschweine in ferner Zukunft im Stall Platz genug haben, sich hinzulegen, wir brauchen die EU, um das Rebhuhnrettungsprojekt der Universität Göttingen zu fördern.

Dabei braucht das Rebhuhn bloß Deckung: Mindestens zwanzig Meter breite Blühstreifen aus Wild- und Kulturpflanzen müssen Landwirte anlegen, damit Rebhühner geschützt vor dem Raubwild (Fuchs, Dachs, Habicht und Rabenvögel) brüten können und die nach 24 Tagen schlüpfenden Küken Würmer und Larven, Spinnen und Insekten finden, denn tierisches Eiweiß ist für die Kleinen lebensnotwendig. Wo sind die Hecken, die vom Bauer unbeachteten Wiesenstreifen, Kleinbüsche und Dornensträucher? Wo sind die Bauern, die mehr anbauen als Raps, Mais und Weizen? Wo stehen Sandbrombeere, Hirschholunder, Schneeball und Bittersüß, wo Melde, Schafgarbe und Hirtentäschelkraut? Münchhausen verband nichts Romantisches mit dem Rebhuhn. Man sollte nicht Romantiker genannt werden dürfen, wenn man es heute retten will. Auch wenn das schwieriger scheint als der Sprung durch ein Mähdrescherfenster.

WIEBKE HÜSTER

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