Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.09.2021

Der Wolf ist eine Gefahr – auch für den Menschen?

Wie weit wollen wir den deutschen Bestand noch anwachsen lassen und um welchen Preis? Der Wolf ist angekommen in der Niederlausitz wie im Hunsrück – und in der Realpolitik zwischen Berlin und Brüssel.

Der Wolf ist gefährlich und gefährdet. Schafen, Ziegen, Ponys, Kälbern, Rehen, Rotwild und Wildschweinen kann er gefährlich werden. Hunde, die ihm im Wald begegnen, attackiert er unter Umständen, wenn er sie als Eindringlinge in sein Wolfsrevier begreift. Knapp 4000 Fälle von tödlichen Weidetierrissen und tausend Übergriffe wurden 2020 gemeldet, das ist ein Zuwachs von dreißig Prozent gegenüber dem Vorjahr. Doch hinter der offiziellen Zahl müssen weit höhere tatsächliche Nutztierrisse vermutet werden.

In Brandenburg, wo allein 47 der für das Monitoringjahr 2019/2020 festgestellten 128, jeweils acht bis zehn Tiere zählenden Wolfsrudel in Deutschland leben, haben gerade in der strukturschwachen Region der Niederlausitz viele Menschen noch ein paar Schafe und Ziegen hinter dem Haus stehen. Risse zu melden käme einigen von ihnen schon deshalb nicht in den Sinn, weil sie Schaf oder Ziege nie haben registrieren lassen. Abends im Gasthaus nickt der Mann, der an den Ruhetagen der eigenen Kneipe bei seinem Nachbarwirt an der Theke sitzt, bis beide grinsend schätzen, wie viele Biere etwa er zahlen soll. Er nickt und schweigt auf die Frage nach illegalen Abschüssen. 126 Totfunde verzeichnet das letzte Monitoring, elf Wölfe wurden illegal getötet, mehr als hundert starben im Straßenverkehr.

Schäfer Hissung hat vorausschauend früh Schutzmaßnahmen ergriffen. Er ist einer von drei Schäfern, mit denen Lars Thielemann, Leiter des Naturparks “Niederlausitzer Heidelandschaft”, zusammenarbeitet. Diese um die dreihundert Schafe zählenden Herden halten die Landschaft auf dem seit 1988 stillgelegten und dann umgewandelten Truppenübungsplatz bei Bad Liebenwerda frei. Hissung lässt die Schafe nie allein. Zur Hand gehen dem Schäfer zwei Hütehunde, die auf seinen Befehl die Herde umkreisen und Schafe, die sich zu weit entfernen, zurückholen, und die jeden nahenden Prädator melden würden. Nachts stehen die Heidschnucken eingezäunt in einem inneren kreisförmigen Pferch. Um diesen ersten Zaun ist ein zweiter, stromführender und im Boden umgeschlagener Zaun gezogen. In dem Ring zwischen den Zäunen patrouillieren zwei große Herdenschutzhunde. Es sind also drei Hürden, die der Wolf überwinden müsste, sagt Hissung. Diese Schutzmaßnahmen wurden so früh installiert, dass kein Wolf Gelegenheit hatte, vorher zu lernen, dass Schafe eventuell leichte Beute sein können. So können Thielemann und Hissung sagen, dass es in den Herden des Naturparks noch keinen einzigen Riss gegeben hat.

Szenenwechsel. Bernd Merscher, Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Ziegenzüchter und im Vorstand des Landesverbands der rheinland-pfälzischen Schaf- und Ziegenhalter, steigt in der Mittagssonne im Hunsrück von seinem Trecker. Er sieht deutlich, sagt er, wie inzwischen unterschiedliche Naturschutzziele konfligieren. Er hält dreitausend Schafe und Ziegen, mit denen er die Ausgleichsflächen bodenversiegelnder Unternehmensbauten beweidet. Weideflächen sind für die Biodiversität unendlich wichtig. Die Blühwiesen sind das Zuhause unzähliger vom Aussterben bedrohter Insekten. Wie aber soll man dreitausend Weidetiere einzäunen? Wie viele Herdenschutzhunde, die als Welpen 3000 Euro, als ausgebildete Security aber 6000 Euro kosten, brauchte man da wohl?

Auf den Almen ist das Problem noch offensichtlicher. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass der Wolf mit seinem jährlichen Zuwachs von 30 Prozent des Bestands unsere von Weidetierhaltung geprägte Kulturlandschaft gefährdet. Wie weit wollen wir den deutschen Bestand anwachsen lassen und um welchen Preis? Das ist die politische Frage, die so schnell wie möglich auf Basis von Forschungsergebnissen beantwortet werden muss. Neben den Nutztieren geht es um Wildtiere. Wie die Bauern haben auch die Jäger eine differenzierte Haltung zum Wolf. Sie begrüßen zwar seine Rückkehr und betonen, bei 1,2 Millionen erlegten Rehen – Jagd ist eine wichtige Maßnahme zum Schutz des Waldes und insbesondere der Naturverjüngungen – fielen die zuletzt etwa 40.000 von Wölfen erbeuteten Rehe nicht wirklich ins Gewicht. Allerdings, führt der Präsident des Deutschen Jagdverbands, Dr. Volker Böhning, aus, seien die Jäger für die Einrichtung verschiedener Zonen, nämlich von Wolfsschutzarealen, in denen diese nicht gejagt werden, Wolfsmanagementarealen, wo einzelne problematische Tiere gejagt werden können, und Wolfsausschlussarealen, wo Weidetierhaltung und Almwirtschaft oder Deichschutz es gebieten.

Ist die Population inzwischen groß genug?

Aber ist der Wolf außer für die genannten zahmen und wilden Tiere auch für den Menschen eine Gefahr, wie manche meinen? Untersucht haben Wissenschaftler um den in Norwegen forschenden Zoologen John Linnell die Frage von Wolfsangriffen auf Menschen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Es sind verschwindend wenige. In früheren Jahrhunderten war die Gefahr für Menschen größer als heute. So töteten Wölfe gelegentlich Kinder, die man zum Hüten von Nutztieren allein hinausgeschickt hatte. In Frankreich gab es Todesfälle durch an Tollwut erkrankte Wölfe.

Der Wolf ist der am weitesten verbreitete große Prädator. Seit 1992 ist die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der Länder Europas bindend. Durch sie sollen natürliche Lebensräume mit ihren wilden Pflanzen und Tieren geschützt und die Artenvielfalt gesichert werden. Für Deutschland steht der Wolf unter den streng geschützten Tieren im Anhang IV der Richtlinie. Ob die europäische Population inzwischen groß genug ist, um vom günstigen Erhaltungszustand der Art sprechen zu können, darum dreht sich der Streit in Deutschland, dessen neuerliche Wolfsbesiedlung nach 150 Jahren mit dem Mauerfall einsetzte. Es muss ein deutsches Umweltministerium in Brüssel beantragen, Canis lupus lupus in Anhang V zu listen und somit ein selbstverständlich strikt geregeltes Wildtiermanagement zu ermöglichen – wie in Frankreich, Finnland oder Schweden. Das fordern Wissenschaftler wie Klaus Hackländer schon länger. Und zwar, wie Professor Hans-Dieter Pfannenstiel mit Nachdruck sagt: “bevor die Stimmung auf dem Land kippt”.

WIEBKE HÜSTER

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