Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2021

Der Bär liebt keine Überraschungen

Raubtier, Stofftier, pelziger Romantiker: Warum Bären seit jeher die Fantasie von Jägern, Sammlern und Schriftstellern entzündet haben.

In Richard Girlings neuem Buch „The Longest Story. How Humans have Loved, Hated and Misunderstood Other Species“, zu Deutsch „Der Mensch und das Biest. Eine Geschichte von Herrschaft und Unterdrückung“, liest man nicht nur, was für ein gründlicher Naturforscher Aristoteles war, sondern auch, dass er Aberglauben ebenso verachtete wie Plinius: „Dass Menschen in Wölfe verwandelt und dann in ihre ursprüngliche Gestalt zurückversetzt werden können, müssen wir entschieden als Lüge zurückweisen.“ Doch was sind zweitausend Jahre Wissenschaftsgeschichte, könnte man angesichts mancher Publikationen fragen, in denen wilde Tiere derzeit zu Projektionsflächen der „Spiritualität“, „Achtsamkeit“, „Naturverbundenheit“ und des „Anderen“ werden. Das Schicksal trifft den Wolf, aber er teilt es mit dem Bären, dem größten der in Europa heimischen Prädatoren und beliebten Stofftier.

„An das Wilde glauben“ heißt ein neues Buch der französischen Ethnografin Nastassja Martin, die auf der russischen Halbinsel Kamtschatka das Leben der Ewenen studiert. Unterwegs in den Bergen, kommt es zu einer beinahe tödlichen Begegnung. Martin schreibt, sie sei auf der Suche gewesen „nach demjenigen, der endlich die Kriegerin in mir offenbaren würde“, und berichtet: „Ich denke . . . an den Kuss des Bären, an seine Zähne, die sich über meinem Gesicht schließen, an meinen krachenden Kiefer, meinen krachenden Schädel, an die Dunkelheit, die in seinem Maul herrscht, an seine feuchte Wärme und seinen stark riechenden Atem, an das Nachlassen des Drucks seiner Zähne, an meinen Bären, der es sich plötzlich auf unerklärliche Weise anders überlegt, seine Zähne werden nicht die Werkzeuge meines Todes sein, er wird mich nicht verschlingen.“

Unerklärlich ist außer der Romantik der Autorin nichts: Der Bär behandelte die Anthropologin schlicht wie einen Bären, dem es kurz zu zeigen galt, wer hier das Sagen hat. Eine Tötungsabsicht gab es dabei nicht, nur halten Menschenschädel nicht so viel aus.

Warum ziehen Bären Menschen magisch an? Die mächtige Gestalt, der aufrechte Gang und Sitz und die handähnlich verwendeten Vordertatzen ließen den Bären schon vor Tausenden von Jahren einschüchternd menschenähnlich auf Jäger wirken. Gejagt wurde er trotzdem, „wegen seines wohlschmeckenden Fleisches und prächtigen Pelzes“, wie Egon Wamers im Katalog der 2016 im Archäologischen Museum Frankfurt gezeigten Ausstellung „Bärenkult und Schamanenzauber“ schreibt. Zum „Bärenkult zirkumpolarer Jägervölker“ gehöre „ein reiches und vielfältiges religiöskultisches Zeremoniell, mit dem sie die Jagd und Tötung von Bären begleiten“. Das unheimliche Gefühl, in dem Fell stecke vielleicht doch ein Mensch, verlässt die Jäger offenbar nie.

Dass Naturschriftsteller wie Martin, die „Nature Writers“, historische Vorbilder haben, war bekannt, ist aber im Detail fantastischer als gedacht, wie Gir ling weiß. 1903 machte sich etwa der Darwinist und Umweltschützer John Burroughs in einem Artikel im Atlantic Monthly über Autoren lustig, die mit eigenen Augen gesehen haben wollten, „wie ein Fuchs Jagdhunde vor einen heranbrausenden Zug lockte, ein herabschießender Adler ein aus dem Nest fallendes Vogeljunges im Flug fing, eine Waldschnepfe ihr gebrochenes Bein mit Lehm schiente, ein Luchs acht Wölfe in die Flucht schlug, ein Wolf ein Karibu mit einem einzigen Biss ins Herz tötete“. Burroughs nannte das den „Regenbogenjournalismus des Waldes“, so Girling, und spottete etwa über E. T. Setons Buch „Wild Animals I have Known“, es trüge besser den Titel „Wild Animals I Alone Have Known“. 1907 platzte selbst Präsident Theodore Roosevelt der Kragen, und er nutzte ein Interview, um Jack London – „absoluter Höhepunkt der Absurdität“ – mitzuteilen, wie irre er dessen Roman „Wolfsblut“ fand, in dem ein Hund sich gegen einen dreimal so großen Wolf durchsetzt.

Ein Jahrhundert später ist die Aufklärung nur bedingt weiter. Zwar nehmen Wissenschaftler lokales und traditionelles Wissen über Beutegreifer ernst, aber von den „Nature Writers“ wird Romantik geradezu erwartet. Die Legende von der Friedfertigkeit der Wölfe, die sich nur „dann und wann“ ein Schaf holen, ist etwa ein beliebtes Narrativ. Nachdem die Zahl der Wolfsrudel seit der Wende kontinuierlich ansteigt, befand die damalige Leiterin des Bundesamts für Umwelt und Naturschutz bereits 2018, nun könne auch der Bär nach Deutschland zurückkehren. Erscheint nach dem Wolf also der Bär an der deutschen Grenze?

Der Braunbär ist in Deutschland ausgestorben, Wölfe gibt es nach wissenschaftlicher Schätzung etwa 1.600 bis 2.000. Zum Vergleich: Schweden hat 3.000 Bären und 380 Wölfe und richtet seine Bejagung nach diesem günstigen Erhaltungszustand der Prädatoren aus. Beobachtet wurde in Schweden, dass Wölfe dort weniger Beutetiere reißen, wo Bären vorkommen. In Brandenburg Bären anzusiedeln, hält Michael Schneider, Raubtierbeauftragter der Regierung der schwedischen Provinz Västerbotten, dennoch für keine gute Idee. „In Schweden waren die Bären nie völlig ausgestorben. So konnte man die Population hier wie- der aufbauen.“ Geschossen werden jedes Jahr etwa zehn Prozent der Bärenpopulation, manchmal mehr. Probleme gibt es dennoch mit der Rentierzucht der Samen, denen Bären gerne Kälber wegfressen.

Überwiegend leben die Bären nämlich wie die Samen im Norden Schwedens, während die Haltung von Schafen und Kühen mehr im Süden angesiedelt ist und die Weiden meist eingezäunt sind. Diskutiert wird die Bärenjagd dennoch, auch in jagdethischer Hinsicht, vor allem der Einsatz von zu viel Technik dabei, Autos, Fotofallen und GPS-Halsbändern für Jagdhunde.

Die Schweden verbringen viel Zeit in den Wäldern, dennoch kommt es nur sehr selten zu Bärenangriffen. „Bären sind keine gefährliche Art“, sagt Schneider, „man darf sie nur nicht zu sich locken, im Dickicht überraschen oder provozieren“. Ist das den Deutschen zuzutrauen? In Schweden denkt man, die Deutschen erweisen sich einen Bärendienst damit, kein wissenschaftlich basiertes Wolfsmanagement aufzubauen und noch nicht einmal offen zu diskutieren, wie man den günstigsten Erhaltungszustand des Wolfs in Deutschland definiert.

WIEBKE HÜSTER

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