Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.10.2021

Das Auerhuhn und seine Eigenarten

Das Auerhuhn ist genügsam, schüchtern und war doch als Teufelsvogel bekannt. Woran das lag? An der Balz natürlich.

Wie genügsam diese großen Raufußhühner sind, deren schwarze Hähne Gewicht und Proportionen von Truthähnen oder stattlicheren Gänsen erreichen können und deren rostbraune Hennen klein und leicht wie Haushühner oder Fasanen sind. Wegen des unterschiedlichen Aussehens der männlichen und weiblichen Exemplare bescheinigen die Wildtierbiologen den Auerhühnern „ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus“.

Im Sommer ist an ihrer Losung, also ihren Ausscheidungen zu erkennen, dass ihre Schnäbel nach Kätzchen, Knospen, Samen, Blüten und Beeren ausgehen, aber wovon sie sich im Winter ernähren, ist kaum zu glauben. Da schaffen sie es, Wochen in Eis und Schnee zu überleben, auch wenn ihre einzige Äsung aus den Nadeln von Kiefern, Fichten oder Koniferen besteht. Aber wer sieht schon noch Auerhuhn-Losung. In Mitteleuropa ist Tetrao urogallus vom Aussterben bedroht, in Deutschland leben nur noch 750 bis 1000 Brutpaare, Bestand zuletzt abnehmend um 47 Prozent. Man muss schon Glück haben, um in den Blaubeeren den grünschillernd-schwarzen Kopf eines hervorschauenden Hahns zu entdecken.

Im Winter könnte man die charakteristischen Trittsiegel des Auerhuhns ausmachen, mit jenen nur in der kalten Jahreszeit ausgebildeten Zehenstiftchen, die das Einsinken in die Schneedecke verhindern. Auch lieben Auerhühner es, im Sand oder Staub zu baden, und kehren an die geeigneten Plätze immer wieder zurück. Manchmal lassen sich dann dort Mauserfederchen finden. So sind Losung, Äsungsreste, Trittsiegel und verlorene Federn Indikatoren für den aufmerksamen Waldgänger: Hier lebt, was auch Urhuhn oder Großer Hahn genannt wird.

Fehlende Sensibilität

Wie groß die Bestände tatsächlich sind, ist mit diesen Hinweisen allein nicht zu beurteilen. Wer sie zählen will, muss die Balzplätze aufsuchen. Das spektakuläre Schauspiel der akustisch durchsetzungsstarken Hähne, die während der akuten Phase der Werbung miteinander um die wählerischen Hühner konkurrieren, kann zum Zählen genutzt werden. Früher hat man die liebestollen und darum jede Deckung hinter sich lassenden Hähne beim Balzen geschossen: „Da tritt er heraus, den Stoß gebreitet, den Hals gebläht, fauchend, zischend, schnakelnd“, wie es bei dem im neunzehnten Jahrhundert beliebten bayerischen Jagdschriftsteller Anton Freiherr von Perfall aufgeregt heißt, und gemeint ist der Hahn, nicht der Jäger.

Doch bevor sich jetzt das Entsetzen über diese Vorstellung weiter ausbreitet, sollte man den Jägern des einundzwanzigsten Jahrhunderts Folgendes zugutehalten. Der größte europäische Hühnervogel ist nicht mit dem Gewehr ausgerottet worden, sondern mit den Mitteln der intensiven Land- und Forstwirtschaft und des Skitourismus. Im Gegenteil gibt es Nachweise, dass schonende, waidgerechte Bejagung einer Art wie dem Auerhuhn helfen kann, zu überleben. Denn wer Jägern bei entsprechend wachsenden Beständen Abschüsse in Aussicht stellt, weiß, dass sie dafür Jahre der Hege in Kauf nehmen würden, in denen sie nie einen Auerhahn in den Ofen schieben könnten.

Sie bejagen die Prädatoren, sie verbessern Habitate, sie klären auf, wenn Hundebesitzer nicht verstehen, was Brut- und Setzzeit bedeuten. Aber es ist natürlich einfacher, die Jäger als Schalenwild-Terminatoren zu begreifen, die für die Umsetzung der Waldstrategie Reh und Hirsch schießen sollen, um die Naturverjüngung nicht zu gefährden und Verbissschäden zu reduzieren. Und während Peter Wohlleben Deutschland im Radio und Fernsehen erklärt, dass eine kleine Wildpflanze wie die Acker-Schmalwand ihre Verwandten erkennt und begrüßt („Tanten und Nichten“), ist eine Diskussion darüber, ob es den Wald-Wild-Konflikt tatsächlich gibt oder ob das nur die Rhetorik der Forstwirtschaft ist, mit den wenigsten möglich.

Teufelsvögel

Die Natur romantisch-esoterisch anzuhimmeln löst aber Probleme wie das Artensterben nicht. Das ist keine Aufklärung, das ist ein Businessmodell. Wie ja überhaupt verschiedenste Individuen und Verbände es geschickt anstellen, mit Naturschutz Einkünfte zu erzielen, sei es mit Ausbildungen an sogenannten „Akademien“ – ein nicht geschützter Begriff – zum Waldführer für zweitausend Euro die Woche oder mit Wolfspatenschaften.

Das Auerhuhn kennt keine Tanten, Nichten oder Paten, es ist ein uriger Vogel, der lieber geht als fliegt. Auf alten Wandteppichen und Wildbret-Gemälden kann man es entdecken, an den Präparaten naturkundlicher Sammlungen ist zu verstehen, warum die Menschen die schwarzen Hähne früher Teufelsvogel nannten: Sie haben besonders zur Balz blutrote „Rosen“ über den Augen. Inzwischen haben sie sich in Deutschland in die Mittelgebirgs- und Gebirgsregionen zurückgezogen. Zur Nacht fliegen sie auf ihre Schlafbäume hoch. Ein Wald, in dem sich die Vögel gerne ansiedeln, muss alt sein und ihrer Spannbreite Platz zum Flugstart bieten. Ob ein Wald auerhuhngerecht bewirtschaftet wird, kann man leicht erfahren, indem man in die Hocke geht. Kann man durchgucken, stimmen die Voraussetzungen. Es sollte Ameisen, Blaubeeren und mehr Nadel- als Laubbäume geben.

Zu alle dem kommen die Raubtiere hinzu

Das scheue und schüchterne Auerhuhn zählte früher zum Hochwild, dessen Bejagung dem Adel vorbehalten blieb. Vielleicht hat es deswegen zu wenig ­bürgerliche Arten-Rückendeckung. In Schweden, wo es noch viele gibt, fahren die Jäger auf Skiern zur Jagd und essen die Hühner gerne. Darauf, sie als Trophäen auszustopfen wie Italiener und Franzosen, würden sie nicht kommen. Umso lieber helfen sie Lars Thielemann und seinem Team beim Auerhuhn-Projekt des Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft. Der Naturparkleiter hat nach zehn Jahren wissenschaftlicher Vorbereitung und Arbeiten an den Lebensräumen begonnen, in Schweden Auerhühner zu fangen, um sie in der Heide wieder anzusiedeln, in einer Gegend, in der die sächsischen Könige einst zur Auerhuhnjagd ritten.

Mit inzwischen hundert Tieren und mehreren dort entstandenen Generationen hat der Bestand ein recht sicheres Plateau erreicht. Füchse und andere Raubtiere seien das Problem, sagt Thielemann, in Österreich, Bayern und dem Schwarzwald auch die Skifahrer. Aber wie alt der Wald sei und ob die Waldwege geschottert seien und der Harvester Krach mache, kümmere die Hühner häufig gar nicht, eine plantagenhafte, indus­trielle Holzwirtschaft hingegen schon. Er folgt dem Leitarten-Konzept. In dem Ausmaß, in dem das Auerhuhn wieder Ruhe und Platz finde, in einer Landschaft, in der der Braunkohletagebau die Wälder gefressen hatte, erholen sich auch andere Arten und Tanten und Nichten.

WIEBKE HÜSTER

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